Und auch bei Workshops an Schulen berichten mir Lehrende von „schüchternen“ Schülerinnen und Schülern. Doch was bedeutet das eigentlich genau? Steckt hinter der Zurückhaltung einiger Schülerinnen und Schüler wirklich Schüchternheit oder sind diese Kinder und Jugendlichen in Wirklichkeit introvertiert und werden darum ständig missverstanden?
Introvertiert versus extrovertiert: Was genau ist das eigentlich?
Introversion und Extraversion sind zwei gegensätzliche Pole von Persönlichkeitsmerkmalen, die erstmals von dem Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung beschrieben wurden, dem Begründer der analytischen Psychologie. Ganz vereinfacht ausgedrückt wenden introvertierte Menschen – etwa ein Drittel der Bevölkerung – ihre Aufmerksamkeit und Energie ihrem Innenleben zu, während extrovertierte Persönlichkeiten einen Großteil ihrer Motivation und Energie aus dem Austausch mit anderen Menschen bzw. aus Reizen von außen ziehen.
Verantwortlich für die beiden Ausprägungen sind verschiedene Botenstoffe wie Dopamin und Acetylcholin. Während introvertierte Menschen durch die höhere Aktivität des Acetylcholins beim Beschäftigen mit inneren Vorgängen Freude empfinden, löst der erhöhte Verbrauch von Dopamin bei Extrovertierten einen hohen Bedarf an Motivation von außen aus. Diese Vorgänge sind angeboren und lassen sich nicht beeinflussen, d. h. man bleibt sein Leben lang introvertiert bzw. extrovertiert.
Die gute Nachricht: Beide Ausprägungen haben ihre ganz eigenen Stärken und Vorteile. Allerdings muss man ehrlicherweise sagen, dass unsere Gesellschaft eher auf extrovertierte Menschen ausgerichtet ist, weshalb Introvertierte mit Hürden zu kämpfen haben, die Extrovertierten fremd sind. Wenn introvertierte Menschen ihre besonderen Fähigkeiten jedoch erkennen und nutzen, stehen ihnen viele Türen offen und sie können – ebenso wie extrovertierte Personen – glücklich und erfolgreich sein.
Die Probleme introvertierter Schülerinnen und Schüler richtig einordnen
Zuerst einmal ist wichtig zu wissen: Schüchternheit und Introversion sind zwei unterschiedliche Paar Schuhe. Es gibt auch extrovertierte Menschen, die schüchtern sind. Die Ursache ist eine völlig andere und es ist wichtig, herauszufinden, warum ein Schüler z. B. Hemmungen hat, sich im Unterricht zu melden. Denn die Ursache ist ganz entscheidend bei der Wahl der Unterstützung, die dieser Schüler benötigt.
In diesem Blogartikel geht es um die Schülerinnen und Schüler, die aufgrund ihrer (unentdeckten) Introvertiertheit unter ihren Möglichkeiten bleiben und schlechtere Noten bekommen, weil man sie nicht entsprechend fördert.
Extrovertierte Kinder und Jugendliche haben hingegen ganz andere Probleme, zum Beispiel fallen sie nicht selten durch Störungen im Unterricht auf, können schlecht alleine lernen und sich nicht immer gut konzentrieren. Wie man diesen Kindern am besten hilft, erkläre ich in einem meiner nächsten Blogartikel.
Zurück zu den Introvertierten. Merkmale, dass Ihr Kind zu dieser Gruppe gehört, können sein:
- Ihr Kind braucht viel Ruhe und zieht sich darum zurück, um Eindrücke zu verarbeiten.
- Stabilität, Routinen, Sicherheit und Harmonie sind essenziell für das Wohlbefinden.
- In der Schule benötigt Ihr Kind mehr Zeit, um auf Fragen der Lehrenden zu antworten.
- Ihr Kind hat eine sehr gute Beobachtungsgabe, kann außerordentlich gut zuhören und ist meist sehr empathisch.
- Es hat keine Probleme, sich über einen langen Zeitraum auf eine Aufgabe zu konzentrieren.
- Bei Gruppenarbeiten ist Ihr Kind eher zurückhaltend und übernimmt gerne bestimmte Aufgaben, die nicht in der ersten Reihe stehen (Protokollführer etc.).
- Wenn sich Ihr Kind in Ruhe auf eine Aufgabe vorbereiten kann, etwa bei einem Referat, zeigt es sein ganzes Potenzial.
- Ihr Kind ist sehr gut darin, größere Zusammenhänge zu erkennen, ist umsichtig, sorgfältig, vorsichtig, häufig sehr kreativ und unabhängig.
- Introvertierte Menschen geben nicht gerne etwas von sich preis, haben Schwierigkeiten, um Hilfe zu bitten und neigen zu Selbstzweifeln.
Dies ist nur ein kleiner Teil von Verhaltensweisen, die introvertierte Persönlichkeiten zeigen können. Auch hier gilt: Jeder Mensch ist ein Unikat und nicht jeder Introvertierte gleicht dem anderen.
Was die Aufzählung aber sehr schön zeigt, sind die vielen positiven Eigenschaften introvertierter Menschen. Und auch wenn in der Schule die mündliche Mitarbeit Teil der Gesamtnote ist, können introvertierte Schülerinnen und Schüler durch andere Aufgaben Defizite beim Mitmachen ausgleichen.
Dafür ist aber ganz wichtig:
Eltern müssen zuerst einmal erkennen, zu welcher Gruppe ihr Kind gehört. Ist es introvertiert, sollten Eltern mit den Lehrenden darüber sprechen, damit das Kind sein volles Potenzial ausschöpfen kann. Möglichkeiten der Unterstützung in der Schule können sein:
- Vielleicht hilft es dem Kind, wenn es einen Sitzplatz am Rand, z. B. am Fenster bekommt und nicht mittendrin sitzt. So kann es beim Blick aus dem Fenster Ruhe finden und sich trotz des Trubels drumherum zurückziehen.
- Lehrerinnen und Lehrer sollten darauf achten, introvertierte Schülerinnen und Schüler ab und zu von sich aus dran zu nehmen, um den Kenntnisstand zu überprüfen.
- Bei Gruppenarbeiten bieten sich kleinere Gruppen an, mit klar verteilten Aufgaben.
- Falls es Alternativen zur mündlichen Mitarbeit gibt, etwa das Halten eines vorbereiteten Referats, ist das für Introvertierte häufig eine große Erleichterung.
- Lehrende sollten die Stärken von introvertierten Schülern erkennen und nutzen, etwa die große Kreativität, Konzentrationsfähigkeit, Empathie oder die Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen.
- Pausen sind für introvertierte Menschen ganz wichtig, um das Erlebte zu verarbeiten.
- Wann immer Aufgaben freiwillig sind, sollten Lehrende dies ganz klarmachen. Das nimmt den Druck heraus und fördert so die Motivation, sich im eigenen Tempo zu beteiligen.
Was können Eltern tun, um ihre introvertierten Kinder zu fördern?
Haben Eltern erkannt, dass ihr Kind zur Gruppe der Introvertierten gehört, habe sie viele Möglichkeiten, ihrem Kind effektiv zu helfen. Der wichtigste Tipp, den ich den Eltern in dem Fall gebe, lautet: kein Druck. Denn das lähmt introvertierte Kinder geradezu und lässt die eh schon vorhandenen Selbstzweifel noch mehr wachsen. Eltern sollten Verständnis dafür zeigen, dass es keine Frage des Wollens ist. Kommentare wie „Du musst dich öfter in der Schule melden!“ führen also zu nichts, denn niemand kann aus seiner Haut. Schon gar nicht junge Menschen, die erst einmal selbst herausfinden müssen, wer und was sie sind.
Geduld, Einfühlungsvermögen, positive Bestärkung und das Herausstellen von Stärken sind der Schlüssel zum Erfolg. Loben Sie Ihr Kind für all die guten Eigenschaften, für seine Kreativität, seine Empathie, seine Fähigkeit sich gut auf die Hausaufgaben oder das Lernen zu konzentrieren. Zeigen Sie Ihrem Kind, dass Sie wissen, wie es sich fühlt und zwingen Sie ihm nichts auf, z. B. permanentes Spielen mit anderen Kindern. Kontakt ist wichtig, aber introvertierte Kinder suchen sich selbst sehr genau aus, wie viel Kontakt okay ist und mit wem.
Sprechen Sie mit den Lehrerinnen und Lehrern Ihres Kindes über die besonderen Bedürfnisse und arbeiten Sie gemeinsam Wege aus, dem Kind zu helfen und es zu fördern. Es kann auch gut sein, wenn Lehrende das Thema introvertiert versus extrovertiert offen in der Klasse thematisieren.
Hier kann ich als Lerncoach mit viel Erfahrung im Umgang mit unterschiedlichen Schülern und Lerntypen ebenfalls einen Beitrag leisten. Einerseits im Gespräch mit betroffenen Schülern, andererseits in Form von speziellen Lerncoachings und Workshops an Schulen.
Sprechen Sie mich gerne an, wenn ich Sie unterstützen kann.
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